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FAQ #6: Wie gefährlich ist die Lage am AKW Saporishshja?

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Immer wieder richten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf das Kernkraftwerk Saporishshja in der Ukraine am Fluss Dnipro: Es ist von der russischen Armee besetzt und stand schon mehrfach unter Beschuss. Die Angst, dass es dort zu einem Reaktorunfall kommen kann, ist groß.
In unserem FAQ #6 haben wir zentrale Fragen dazu versammelt: Wie groß ist die Gefahr? Kann es zu einem zweiten Tschernobyl kommen oder zu einem Szenario wie in Fukushima? Wie ist die militärische Lage – und wie sind die Sicherheitsvorkehrungen? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schreiben darüber in Fragen und Antworten.

Quelle dekoder

rundsätzlich ausschließen kann man das nicht – schlicht aufgrund der Tatsache, dass sich das AKW Saporishshja in einem Kriegsgebiet befindet. Von einem kerntechnischen Stör- und Unfall sind wir derzeit aber sehr weit entfernt.

Damit es zu einem Unfall kommt, müsste mindestens eines der beiden folgenden Szenarien eintreten: 

a) Es kommt zu einem Stromausfall auf der gesamten Anlage PLUS sämtliche Sicherheitseinrichtungen ↓ versagen, sodass die Kühlung von mindestens einem der sechs am Standort vorhandenen Reaktoren nicht mehr aufrechterhalten werden kann. 

b) Es kommt durch Beschuss mit schweren Waffen an einem der Reaktorgebäude zu einer äußerst starken Beschädigung, wobei die vorhandenen Stahlbetonbehälter durchdrungen und Reaktoreinbauten beschädigt werden, sodass die Kühlkette unterbrochen wird. 

Gerade Szenario 2 ist schwer vorstellbar, da es ein gezieltes Herbeiführen voraussetzt, woran jedoch eigentlich keine der involvierten Parteien ein ernsthaftes Interesse haben kann. Bislang wurde Beschuss direkt auf ein Reaktorgebäude selbst auch nicht registriert (Stand 15.09.2022). Lediglich das Gelände oder Nebengebäude wurden getroffen.
Gleiches gilt für ein gezielt herbeigeführtes Versagen der Systeme durch Sabotage, wobei man hier sagen muss, dass es aufgrund der sicherheitstechnischen Auslegung eines AKWs ohnehin kaum zu realisieren ist.

Kurz zur Ausgangslage: In der Ukraine gibt es vier aktive Kernkraftwerke1 – von denen das AKW Saporishshja  das leistungsstärkste ist, nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa. Dieses ist seit der Nacht vom 3. auf den 4. März 2022 von russischen Truppen besetzt. 

Die Anlage wird weiter von der bisherigen ukrainischen Betriebsmannschaft betrieben. Allerdings haben weder externe Mitarbeiter des staatlichen Kraftwerksbetreibers noch die ukrainische Atomaufsichtsbehörde Zutritt zum AKW. 

Das AKW-Gelände und der Umkreis ist wiederholt unter Beschuss geraten ↓. Beschädigt wurden dabei vor allem die Hochspannungsleitungen, über die das AKW mit dem Landesnetz der Ukraine verbunden ist. Zeitweise fiel Anfang September die letzte intakte Leitung aus. Dabei wurde der zu dem Zeitpunkt noch einzig aktive Reaktorblock 6 so weit gedrosselt, dass er nur noch den Strom produzierte, den die Anlage für den eigenen Bedarf benötigte – insbesondere für die Kühlung der Reaktoren. Für diesen sogenannten Inselbetrieb  ist ein AKW aber nur zur Überbrückung ausgelegt. Daher entschied sich der Kraftwerksbetreiber am frühen Morgen des 11. September, nachdem das AKW wieder an das ukrainische Stromnetz angeschlossen worden war, diese Gelegenheit zu nutzen, um die komplette Anlage kontrolliert herunterzufahren. 

Sebastian Stransky
Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln

2. WÄRE EIN ZWEITES TSCHERNOBYL MÖGLICH? EIN ZWEITES FUKUSHIMA? UND WIE SIND DIE SICHERHEITSVORKEHRUNGEN?

Erstens: Ein „zweites Tschernobyl “ ist nicht möglich. Die im AKW Saporishshja (und auch im Rest der Ukraine) betriebenen Reaktoren sind gänzlich andere, als der 1986 havarierte. Daher ist insbesondere ein Graphitbrand  nicht möglich. Ein solcher hatte 1986 radioaktive Partikel in die Atmosphäre hochgetrieben, sodass diese großflächig durch Wind und Wetter verteilt werden konnten. 

Zweitens: Sollte es einen totalen Stromausfall auf der Anlage geben, könnte sich zwar ein kritisches Szenario entwickeln, das in letzter Konsequenz zu einem Schmelzen des Kerns führen könnte. Trotzdem hinkt der viel gezogene Vergleich zu Fukushima von 2011 – aus zwei Gründen: a) wurde die Anlage in Japan durch das Erdbeben und den darauffolgenden Tsunami von einer plötzlich auftretenden Naturkatastrophe überrascht und b) verfügten die japanischen Reaktoren nicht über einen Sicherheitsbehälter aus Stahlbeton mit Ventingfunktion . Dieser erhöht die Stabilität und Funktionalität der Reaktorgebäude im AKW Saporishshja. Das heißt, selbst wenn es aufgrund eines längerfristigen Stromausfalls zu einer Kernschmelze kommen sollte, so bestünde immer noch die Möglichkeit, radiologische Freisetzungen zu vermeiden.

Gegen einen Stromausfall an sich gibt es in dieser Anlage auf sämtlichen Ebenen – redundant vorhandene – Sicherheitsvorkehrungen. Zurzeit sind sie alle intakt. Redundant bedeutet, dass sich grundsätzlich mehrere Systeme (beispielsweise Notstromdiesel und Pumpen zur Kühlung) gegenseitig absichern. Es können also auch mehrere von ihnen ausfallen, ohne die Sicherheit der Anlage zu gefährden. Das gilt sowohl im sogenannten Inselbetrieb als auch im heruntergefahrenen Zustand. Bevor sich die Lage so zuspitzt, dass die Kühlung tatsächlich ausfällt, können mehrere Tage bis Wochen überbrückt werden. Das greift, solange mindestens eine Hochspannungsleitung zum AKW intakt oder zumindest Dieseltreibstoff für die Notstromaggregate vorhanden ist.

Drittens: Grundsätzlich ist es so, dass die Anlagen gegen sogenannte Einwirkungen von außen, beispielsweise einen Flugzeugabsturz oder ein Erdbeben, ausgelegt sind. Mit schweren modernen Waffen (zum Beispiel Marschflugkörper oder ballistische Raketen), die bewusst und zielgerichtet auf die Reaktorgebäude geschossen werden, lässt sich jedoch – theoretisch – auch die 1,5 Meter dicke Stahlbetonhülle der Reaktorgebäude zerstören. Das müsste mutwillig herbeigeführt werden. 

Viertens: Ein weiteres denkbares Szenario wäre ein Treffer des Zwischenlagers, das sich auf dem AKW-Gelände befindet. Dort werden die abgebrannten Brennelemente aus dem AKW in speziellen Behältern gelagert, deren ca. 80 Zentimeter dicke Hülle aus mit Stahl armiertem Beton besteht. Würde ein solcher Behälter durch Beschuss beschädigt, könnten radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen. Das wäre zwar ein Problem auf und im unmittelbaren Umfeld der Anlage, aber kein großflächiges radiologisches Katastrophenereignis .

Die möglichen Unfallszenarien unterscheiden sich hinsichtlich der Menge und Art der freigesetzten radioaktiven Stoffe teils deutlich. Welche Auswirkungen  sie im Einzelfall haben (auch für Deutschland), würde auch stark von den Witterungsbedingungen zum Zeitpunkt eines Ereignisses abhängen – insbesondere von Windrichtung und -stärke. 

Sebastian Stransky
Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit
3. RUSSLAND UND DIE UKRAINE GEBEN SICH FÜR BESCHUSS GEGENSEITIG DIE SCHULD. WAS WISSEN WIR GENAU ÜBER DIE MILITÄRISCHE LAGE AM AKW – UND WAS NICHT?

Die russische Armee hat das AKW im Zuge des Angriffs in Richtung Saporishshja  am Ende der ersten Kriegswoche erobert. Obwohl es von der Ukraine nicht militärisch besetzt war, vermuteten russische Angreifer dort Feind und nahmen das AKW-Gelände unter Beschuss – und es dann vom 3. auf den 4. März ein. Militärisch ist es ein markantes Gebäude, von dem man gute Beobachtungsmöglichkeiten ins Umland hat. Als relativ gesichert gilt, dass die russische Armee Teile der AKW-Anlagen seitdem zu einem Lager  ausgebaut hat.  

Was die Kampfhandlungen dort beziehungsweise in der Region angeht, so ist die Lage dagegen diffus und es gibt verschiedene Ebenen, die zu betrachten sind:

a) die Frage, wo die aktuelle Front und damit schwere Kämpfe zu verzeichnen sind 

b) die Frage, was das genau für ein Beschuss rund um das AKW ist, der zwischenzeitlich – besonders im August – zunahm.

Die aktive Frontlinie liegt bereits seit April nicht mehr am AKW selbst. Das ist dort alles russisch besetztes Gebiet: Die russische Armee hatte in den ersten Kriegswochen die Stadt Enerhodar eingenommen, in der das AKW Saporishshja direkt am Flussufer des Dnipro liegt. Ebenso hat sie das rund 100 Kilometer südlich gelegene Melitopol und das 200 Kilometer weiter westlich entfernte Cherson besetzt. Schwere Kampfhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Panzerverbänden gibt es also in 50 bis 100 Kilometer Entfernung . Die Art des Beschusses, die am AKW bislang verzeichnet wurde, ist anhand von Trümmern zu beurteilen: Darunter finden sich zum Beispiel Artillerie-Raketen – diese fliegen jedoch nicht aus Versehen 50 Kilometer zu weit. Ein solcher Angriff muss absichtlich erfolgen.

Die Beschüsse am AKW  sind also unabhängig von der aktiven Front zu sehen. 

Wer auf wen schießt, lässt sich in der Gemengelage nicht pauschal sagen.2 Nichtsdestotrotz gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass die russische Armee die ukrainische Armee an dieser Stelle provozieren könnte. Bei konkreten Einzelaktionen legen Indizien nahe, dass es auch russischen Beschuss3 auf das AKW-Gelände gab, ziemlich sicher mit dem Ziel, die Ukraine als (vermeintlichen) Angreifer zu diskreditieren. Das erklärt freilich nicht jeden einzelnen Vorfall seit März. Zu oft wissen wir einfach zu wenig. Aber es zeigt die Absicht der Russen, selbst-inszenierten Beschuss (sogenannte „false-flag“-Aktionen) als Propagandamittel zu nutzen – etwa, um die Öffentlichkeit im Westen nervös zu machen und damit auch Waffenlieferungen an die Ukraine in Verruf zu bringen.

Weiterhin: Auch die Ukraine bekannte sich zu einem Drohnen-Angriff im Juli, bei dem ein russischer Raketenwerfer zerstört und drei Soldaten auf dem AKW-Gelände getötet worden sein sollen.4 Hintergrund dürfte gewesen sein, Angriffe vom AKW-Gelände aus zu unterbinden. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass die russische Armee von dort bewusst zivile Siedlungen am gegenüberliegenden (ukrainisch kontrollierten) Dnipro-Ufer unter Beschuss genommen hat, erstens um den Gegner zu demoralisieren, zweitens um Gegenfeuer auszulösen. 

Die aktive Front wird voraussichtlich auch weiterhin eher nicht direkt am AKW liegen. Auch nicht, wenn die ukrainische Gegenoffensive in dieser Region beginnen sollte, nach Süden vorzudringen. Das AKW wird dann vermutlich erst einmal links liegen gelassen, weil es auf keiner der möglichen Vorstoßrouten liegt.

Gustav Gressel
European Council on Foreign Relations

4. SOLLTEN ANGRIFFE AUF ATOMKRAFTWERKE IM KRIEG NICHT TABU SEIN? (SPOILER: JA – MIT WENIGEN AUSNAHMEN)

Im Grunde ja – auch wenn es einige wenige Ausnahmen gibt (dazu später mehr ↓). Völkerrechtlich ist es grundsätzlich verboten, Kernkraftwerke anzugreifen. Das Kriegsrecht sieht für AKWs und deren Umfeld einen besonderen Schutz vor, weil die Gefahr groß sein kann, die von Kernkraftwerken in Friedens- und noch viel mehr in Kriegszeiten ausgeht. Ein Reaktorunfall könnte schließlich Folgen für Regionen in der Ukraine, in Belarus und weit darüber hinaus haben. 

Grundlage für das Verbot ist Artikel 56  des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen zum „Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten“. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind Vertragspartei des Zusatzprotokolls und haben sich damit zur Einhaltung verpflichtet.
Allerdings – und das wird oft unterstellt – handelt es sich bei dem Gebiet um ein AKW nicht automatisch um eine „demilitarisierte Zone“ . Eine solche Zone liegt nur dann vor, wenn sich Russland und die Ukraine darauf einigen würden, sämtliches militärisches Personal inklusive Ausrüstung abzuziehen und die Zone somit zu  „demilitarisieren“. Das ist bisher zumindest nicht der Fall, wird aber von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) nachdrücklich gefordert ↓.
Dass Russland das AKW besetzt hält ↑, kann bereits als Angriff auf ein Atomkraftwerk gewertet werden und stellt damit einen Verstoß gegen das 1. Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen dar.

Es gibt weitere internationale Standards , die von der IAEO konkret für die Ukraine formuliert  wurden, um den Betrieb von AKWs in diesem Krieg zu schützen. Dazu gehören neben der Unversehrtheit der Anlagen auch die Sicherheit der Ingenieure, die ihre Entscheidungen in der täglichen Arbeit „frei von unangemessenem Druck“ treffen können müssen, wie es darin heißt. Diese Standards sieht die IAEO als verletzt an.5  

Die Krux: Es sind Normen beziehungsweise Empfehlungen einer Internationalen Organisation. Dafür gibt es keinen wirksamen Mechanismus, um sie – gegen den Willen der Beteiligten – durchzusetzen. Im Fall der russischen AKW-Besetzung von Saporishshja wird seit Monaten versucht, diese Krise diplomatisch zu lösen. Ein erster, deutlicher Schritt war Anfang September, die IAEO-Mission auf das Gelände zu lassen ↓, damit sich die Expertinnen und Experten ein Bild machen können. 

Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence)
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg

5. MOMENT, ES GIBT ERNSTHAFT AUSNAHMEN, WANN ANGRIFFE AUF EIN AKW AUCH ZULÄSSIG SEIN KÖNNEN?

Ja, allerdings sind es wirklich nur sehr wenige Ausnahmen und nur unter ganz bestimmten Bedingungen – die zudem rechtlich unterschiedlich ausgelegt werden können. Ausgangspunkt ist die Frage, ob ein AKW

erstens „unmittelbar Unterstützung für die Kriegshandlungen“ liefert, zum Beispiel in Form von Stromzufuhr für Streitkräfte oder militärische Anlagen. Und ob diese Unterstützung

zweitens in ihrem Umfang „bedeutend“ ist. So formuliert es das humanitäre Völkerrecht.

Das ist in der Praxis schwer zu sagen, da ein AKW in der Regel sowohl die Armee als auch weite Teile der Zivilbevölkerung mit Strom versorgt . Der Punkt ist hier: Die Zivilbevölkerung (ebenso wie andere zivile Objekte) darf nach den Genfer Konventionen nicht gezielt angegriffen und nicht in Kriegshandlungen einbezogen werden. Im Fall eines Angriffs auf ein AKW stünde jedoch nicht nur fehlender Strom für die Menschen im Raum, worunter sie zu leiden hätten, sondern auch die mögliche Freisetzung radioaktiver Strahlung ↑ mit Folgen für Leib und Leben.

Daher bestehen völkerrechtlich sehr hohe Hürden. Fraglich ist in diesem Fall daher allein schon, ob vom AKW Saporishshja „bedeutende“ Unterstützung für die Kriegshandlungen ausgeht. Wie bemisst sich das? Und ist diese Unterstützung dann so „bedeutend“, dass sie den möglichen Schaden, den ein Angriff auf ein AKW für die Zivilbevölkerung mit sich bringen kann, tatsächlich überwiegt? Es ist nur schwer vorstellbar, welche militärischen Vorteile es mit Besetzung und Beschuss hier angesichts möglicher unkontrollierbarer und schwerwiegender Schäden für die Zivilbevölkerung durch radioaktive Strahlung geben könnte. 

Sowohl die russische Armee als auch die ukrainische Armee ↑ sind diesen rechtlichen Abwägungen am umkämpften AKW unterworfen.6

Fest steht: In jedem Fall müssen zunächst andere, „mildere“ militärische Mittel und Strategien (erfolglos) eingesetzt worden sein, um die militärischen Ziele zu erreichen . Erst dann stellt sich die Frage, ob ein Angriff auf ein AKW gegebenenfalls rechtlich zulässig wäre.

Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence)
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg

6. WELCHE ERGEBNISSE HABEN DIE INSPEKTIONEN DER INTERNATIONALEN ATOMENERGIE-ORGANISATION (IAEO) GEBRACHT?

Seit Kriegsbeginn und seit der Besetzung des Kraftwerks durch die russische Armee war es mit der IAEO-Mission  erstmals möglich, unabhängige und fachkundige Informationen über den Zustand des Kraftwerks einzuholen – und das ist in der gesamten angespannten Lage ein großer Fortschritt. Im Ergebnis sieht die IAEO derzeit keine unmittelbare Gefahr für einen kerntechnischen Unfall; so paradox es klingen mag, aber die Anlage läuft – rein technisch betrachtet – im Normalbetrieb.

Dennoch zeigte sich IAEO-Direktor Rafael Grossi besorgt und im Abschlussbericht7 wird die generelle Lage am AKW Saporishshja, sprich die militärische Präsenz sowie der wiederholte Beschuss, als „untragbar“ bezeichnet.  

Die IAEO fordert, dass beides beendet wird; insbesondere, dass zunächst der Beschuss aufhört: Es müsse eine demilitarisierte Sicherheitszone ↑ rund um das Kraftwerk eingerichtet werden. Nur über eine solche Maßnahme könne erreicht werden, dass das Militär das Kraftwerksgelände verlassen müsste und das Betriebspersonal dann wieder ohne Druck der Besatzung unter normalen Umständen arbeiten kann. Im Tenor liest sich der Bericht wie eine Generalkritik an der russischen Besetzung des AKW.

Zwei Mitarbeiter der IAEO sollen dauerhaft am Standort Saporishshja bleiben. Ihr Einfluss auf die derzeitige Lage und auf das Geschehen auf dem und um das Anlagen-Gelände dürfte begrenzt sein. Trotzdem bringt ihre Anwesenheit einen Vorteil: Nun sind Experten vor Ort, die die Lage fachlich einschätzen und vor allem Öffentlichkeit herstellen können. 

Die Daten und Angaben, die die IAEO bei ihrer Mission sammelt, könnten in der Zukunft zudem in Ermittlungen8 und eventuellen Gerichtsverfahren genutzt werden, sollte es zum Beispiel zu Verhandlungen von Kriegsverbrechen  vor dem Internationalen Strafgerichtshof kommen. Im Vordergrund der IAEO-Mission steht allerdings die Sicherung der Anlagen vor möglichen kerntechnischen Unfällen. 

Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence)
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg

Sebastian Stransky
Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit


Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.

Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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