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Fototagebuch aus Kyjiw

Von Anfang März bis Ende April 2022 erzählt Mila Teshaieva auf dekoder aus ihrer Heimatstadt im Krieg. Ab dem 24. Juni 2022 ist dieses Fototagebuch in einer Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen, Berlin, zu sehen.

Russische Version

Quelle dekoder

Staub steigt auf aus den Trümmern eines zerbombten Hauses in Borodjanka, 13. April 2022 / Foto © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 24. April 2022

Deutsch
Original
Über die letzten Wochen fahre ich jeden Tag in kleine Städte und Dörfer nordwestlich von Kyjiw.
Vom ersten Tag an, als die russische Armee abzog und die Überlebenden aus ihren Kellern kamen, zitternd, um die enorme Landschaft des Todes um sich herum zu entdecken. Bis zum letzten Tag, an dem alle kaputten russischen Panzer von den Straßen entfernt und die meisten vorläufigen Gräber in den Gärten und Höfen ausgehoben sind. All diese letzten Wochen schweige ich mit meinem Tagebuch. Ich schweige auch mit mir selbst.
Auch die Feuerwehrleute schweigen, die unter den Ruinen neunstöckiger Häuser in Borodjanka nach Leichen suchen. Auch die Freiwilligen schweigen, die mit Lastern kommen, um die Leichen aufzusammeln, die in schwarzen Plastiksäcken in einer Reihe liegen.
Das Schweigen kommt, weil es unmöglich ist zu begreifen, was geschehen ist. Zu begreifen, dass es geschieht. Es gibt innen drin keinen Platz für Trauer, nicht einmal für Wut. Es ist, als wäre die riesige Betonmauer, die die Menschen in Borodjanka unter sich begraben hat, auch auf uns niedergestürzt, die wir Zeugen vom Danach sind. 

In diesen letzten Wochen habe ich mich fast vollständig vom Fotografieren auf Video verlegt. Fotos waren nicht genug. Denn es gibt Menschen, die sprechen müssen. Solche, die in ihrem Haus die Demütigung durch Feinde erlebt haben, durch Feinde, in deren Macht es lag, zu töten oder zu verschonen. Wie gern würde ich all diese Menschen umarmen, wie gern würde ich ihnen ihr Fieber nehmen können. Ein Freund aus Berlin schrieb mir: „Komm weg von dort, um deines Lebens willen.“ Aber ich kann hier nicht weg. Dies ist kein Krieg von jemand anderem, ich kann nicht weg und vergessen – wo immer ich bin, ist er bei mir. Um mich herum offenbart sich meine eigene Geschichte. Und mir ist wichtig, das zu dokumentieren. Vielleicht spreche ich später darüber.

These last weeks, I am going every day to small cities and villages’ northwest of Kyiv. 
Since the first day, when Russian army left and those remained survivors got out of the basements, trembling, to discover this immense landscape of death around them.  To the last day, when all rotten Russian tanks are removed from the streets and most of the temporary graves in gardens and yards are dogged out. All these last weeks I am silent with my diary. I am also silent with myself. 
So silent are fire-workers, who are searching for bodies under the ruins of 9-store houses in Borodyanka.  So silent are those volunteers who come with track to pick up bodies lying in line in back plastic packs. 
This silence comes from the impossibility to comprehend what happened. To comprehend that is happening. There is no place inside for grief, there is no even anger. Ist like this massive concrete wall that burried people in Borodyanka crushed down also on us, who witness the aftermath. 
These last weeks I almost fully switched from photography to video. photography seemed to be not enough. Because there are others, who need to speak. those who went through humiliation of having enemy in their homes, enemy that had power to kill or spare. I wish I can hug all of them, I wish I can take away their fever. A friend from Berlin wrote me “get out of there, for the sake of life”. But I can’t get out. This is not someone else war, I cant leave and forget, wherever I go it stays with me. My own history is unfolding around me. This what is important for me to document now. I might speak about it later.


Butscha, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 4. April 2022

Deutsch
Original
An dem Abend nach Butscha erreicht mich eine Nachricht: Ein sehr lieber Freund hat in Mariupol sein Leben verloren. Mantas. Genial, gutaussehend, mutig und enorm großzügig, von Frauen geliebt, von Männer angebetet, fast wie ein Gott. Götter sollen unverwundbar sein, so hat er bis vor wenigen Tagen in Mariupol gedreht.
An diesem Abend zerbirst mein Panzer in kleine Teile. Am Morgen höre ich, dass Russland die Fotos aus Butscha als Fake bezeichnet. Ich setze die Teile wieder zusammen und sichte meine Fotos von toten Körpern auf den Straßen. Ich bin mit einer komplexen Frage konfrontiert: Ich muss sie zeigen und ich muss dabei auf die Gefühle derer achten, die sie anschauen.
In the evening after Bucha I receive news: the very dear friend lost his life in Mariupol. Mantas. genius, handsome, fearless and uniquely generous,  loved by women and adored by men. almost like God. Gods shall be invulnerable that's why he was filming in Mariupol until last days. 
That night the panzer (броня) around me crumbles into pieces. In the morning I hear that Russia announced photos from Bucha being fake. I gather my pieces together and go through photographs of dead bodies on the streets. I face complex question here: I must show and tell what I saw and I need to care about feelings of those who see it. 


Butscha bei Kyjiw, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 3. April 2022

Deutsch
Original
Der Tod verfolgt mich derzeit. Ich weigere mich immer noch, ihn hereinzulassen, indem ich mich in eine Art Klumpen verwandle, mit nach außen gerichteten Dornen, die denen ähneln, die jetzt auf allen Straßen und Wegen meines Landes liegen. Doch als ich den letzten Kontrollpunkt vor der Straße von Kyjiw nach Shytomyr überquere, erwartet mich der Tod an jeder Ecke und flüstert mir zu: „Schau her, wende deinen Blick nicht ab.“ 

Wir fahren auf schmalen Waldwegen nach Butscha und Irpin, fahren langsam, weichen Granatsplittern, Überresten russischer Panzer und Leichenteilen derer aus, die in mein Land kamen, um es zu zerstören. Am Ortseingang von Butscha stehen Reste einer Immobilienwerbung: Ihr Traumhaus im Wald. 

Die schwarzen leeren Augen dieser Häuser blicken auf die Straßen, wo ein kleiner Bus mit der Aufschrift Cargo 200 fährt und Leichen aufsammelt. Die Männer, die mit Cargo 200 unterwegs sind, arbeiten schwer in den letzten Tagen, aber sie haben immer noch zu viel zu tun. Die von den Russen getöteten Menschen liegen überall, in Wohnungen, Häusern und Kellern, begraben in den Gärten, in verschiedenen Massengräbern in allen Ecken der Stadt. Ich gehe die Straße entlang, halte respektvollen Abstand, betrachte die Posen, in denen der Tod sie erwischt hat, und frage mich, was diejenigen gedacht haben, die beschlossen, ihnen das Leben zu nehmen.

Die Überlebenden der Stadt kommen aus ihren Verstecken, viele lächeln fröhlich, als ob das neue Leben schon da wäre und alle Schrecken hinter ihnen lägen. Sie nehmen unsere Hände und bedanken sich dafür, dass wir gekommen sind, dass wir hinsehen, dass wir uns kümmern. Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fehlen mir die Worte, hier habe ich nichts zu sagen. Die Menschen bekommen kleine Pakete mit Lebensmitteln und verschwinden wieder. 

Der Tod schaut mir vom Straßenrand aus zu, wo noch vor einer Stunde die Leiche einer Frau mit rot lackierten Fingernägeln lag, die Reste der Immobilienwerbung knarren im Wind.

Death follows me these days. I still refuse to let it in, turning myself into some kind of lump, with spikes directed outside, spikes similar to those that lie now on all the roads and streets of my country. But as I cross the last checkpoint before the Kyiv Zhyitomir road, death is waiting me on every corner, whispering “look here, don’t turn your eyes away”. We are driving narrow forest roads leading to Bucha and Irpin, driving slow, avoiding shell fragments, remains of Russian tanks and body parts of those who came to my land to destroy it. At the entrance to Bucha, the piece of real estate advertisements reads “have your dream home in the forest”. Black empty eyes of those homes are looking to the streets, where small bus marked “Cargo 200” is moving along the town, collecting dead bodies from the streets. Several men doing their work with Cargo 200 are working hard those last days, but there are still too much to do for them. People killed by Russians are everywhere, in the flats, houses, and undergrounds, buried in the gardens, in various mass graves in all corners of the town. I walk along the street, keeping respectful distance, looking at the poses in which death caught them, wondering what was a thought of those who decided to take their life.

Survivors of the town come out of their hideouts, many smile happily, like new life already here and all the horrors are behind. They take our hands, thanking for coming, for seeing, for caring. First time since beginning of the war I lack words, here I have nothing to say. People get small boxes with food and disappear again. Death is watching me from the side of the road, where the body of a woman with a red manicure was laying just an hour ago, and remnants of real estate advertisement creaks in the wind.


Im Stadtviertel Podil, Kyjiw, 31. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 31. März 2022

Deutsch
Original
Heute ist gefühlt der erste echte Frühlingstag. Und der erste Tag ohne Luftalarm, zumindest bis jetzt. Vielleicht hat beides zusammen die Straßen Kyjiws plötzlich so lebendig gemacht. Mädchen mit hohen Absätzen, Fahrradfahrer, wo waren die den ganzen letzten Monat? Die Stadt kehrt zur Normalität zurück, wenn das Wort „normal” überhaupt in Frage kommt. Die Stadtverwaltung hat gerade angekündigt, dass es schon ab morgen wieder kulturelle Veranstaltungen geben wird, ab 1. April, auch Kino und Theater. Allerdings mit dem Hinweis, dass sich bei erneutem Luftalarm alle Theaterbesucher umgehend in die Keller begeben sollen. Ich stelle mir vor, wie es ist, mit Hamlet im Bunker zu sitzen und scrolle durch die Ticketangebote.
Today feels to be the first real day of spring. And the first day when there were no air raid signals, at least so far. Maybe the combination of these two factors made the streets of Kyiv so alive. Girls on high hills, bicyclists, where they were all this last month? The city comes back to normality, as far as the word “normal” could be considered. The city administration just announced that Cultural Events will start as soon as tomorrow, April 1st, including cinemas and theater. Though with the note that with the renewed air raids all theater visitors should immediately move underground. I imagine sitting in the bomb shelter with Hamlet and start scrolling online tickets sales.


Kyjiw, 27. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
Kyjiw, 28. März 2022

Jetzt geht der Krieg schon mehr als einen Monat. Ein Monat sind 30 Tage, und jeder Tag bringt Nachrichten aus dem ganzen Land, die der Verstand ablehnt zu begreifen. Jeden Tag sage ich allen, die ich in Kyjiw treffe, den sinnlosen Satz: „Alles wird gut.“ In diesem Satz gibt es ein Moment der Nichtakzeptanz dessen, was geschieht. Nichtakzeptanz als Überlebensinstinkt. Ich kann die von russischen Soldaten getöteten Kinder nicht in mich hineinlassen, verschließe mein Gehirn und meine Seele, damit ich nicht selber zu einer Brandstätte werde. Jeden Tag denke ich, dass das, was schon passiert ist, das Schlimmste ist, was geschehen konnte, mehr geht nicht. Und dann bricht ein neuer Tag an.

In den letzten Tagen denke ich viel über das Leben und über Schuldgefühl nach. Ich möchte so sehr, dass die Menschen nach Kyjiw zurückkehren, ich freue mich wie ein Kind, das den Weihnachtsmann trifft, wenn ich in der Stadt ein wiedereröffnetes Café sehe. Doch nach dem Stolz und Glücksgefühl, dass das Leben weitergeht, überrollt mich ein Schuldgefühl. Schuld, in Kyjiw einen Kaffee zu genießen, während in demselben Moment ein Haus am Rande meiner Stadt brennt. Schuld, mit Freunden laut zu lachen, während tausende Menschen in meinem Land schluchzen vor Gram und Entsetzen. Meine Gedanken berühren sich mit den Gedanken vieler, die hier geblieben sind. Ein Monat Krieg ist sehr lang. Ich spüre, dass für mich persönlich der Verzicht auf die Freude des Augenblick, das Akzeptieren der mir selbst auferlegten Kriegsregeln eine Erniedrigung bedeuten, die ich nicht akzeptieren kann. Deswegen gehe ich mit meinem Morgenkaffee hinaus auf den Balkon und sage der Nachbarin, dass alles gut wird.


Kyjiw, 20. März 2022. Tatjana, eine Freiwillige der Zoo Patrol in Kyjiw, rettet Haustiere aus verschlossenen Wohnungen. In den ersten Kriegstagen sind viele Menschen in Panik abgereist, weil sie dachten, dass sie nur ein paar Tage nicht da sein werden, haben sie ihre Katzen und Hunde in den verschlossenen Wohnungen zurückgelassen. In den letzten Wochen haben sie sich mit der Zoo Patrol in Kyjiw in Verbindung gesetzt und darum gebeten, die Tiere zu retten. © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
 

Kyjiw, 21. März 2022

In der vergangenen Woche werde ich in Kyjiw jeden Tag von der Sonne geweckt, die durch die kleinsten Spalten eindringt und mir keine Chance gibt, die Begrüßung des Morgens zu verpassen. Die Vorhänge an den Fenstern in Kyjiw werden nachts fest zugezogen, das ist die Verdunklung in der Stadt, in der mindestens achtmal am Tag Luftalarm heult, der begleitet ist von ohrenbetäubenden Salven der Luftabwehr. Das Geräusch des Luftalarms löst quälende Unruhe aus, eine Angst, die auf halbem Weg zwischen Brustkorb und Magen zu spüren ist.

Ich verbringe diese Tage in Kyjiw mit sehr unterschiedlichen Menschen, mit Olga, einer Rentnerin, mit Freiwilligen von Zoo Patrol, mit Rischad, einem Friseur, und vielen anderen. Wo auch immer wir sind, beim Klang des Luftalarms fallen wir in Schweigen und schauen einander in die Augen, als würden wir prüfen, ob der Angstklumpen in uns auftaucht, dann atmen wir aus und arbeiten weiter. Über die 26 Tage, die der Krieg nun dauert, ist dieser kurze Moment des Aufkommens und der Überwindung der Angst zur Norm geworden, zur Notwendigkeit, um weiterzuleben, um die zu unterstützen, die es in diesem Moment noch schwerer haben als du. 
Jeden Tag zur Mittagszeit erklingt aus den Lautsprechern auf dem Maidan ein altes Lied über die Liebe zu Kyjiw. Manchmal mischen sich die Klänge des Liedes mit dem Heulen des Luftalarms. Ich schaue mir die Menschen an, die vorbeigehen, wenn das Lied erklingt, das alle kennen, und in diesem Moment lächeln sie. Und die Sonne durchflutet die Stadt, die unbesiegbar ist.



Kyjiw, 18. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
Lwiw, 15. März 2022

Deutsch
Original
Ich übernachte in einer Wohnung zusammen mit meinen Freunden aus Kyjiw, die nach Kriegsausbruch nach Lwiw gezogen sind. Dort ist es ihnen schon in den ersten Kriegstagen gelungen medizinische Hilfsleistungen aus Israel zu organisieren, sie kaufen Medikamente und verteilen sie an Kliniken und Privatleute in der ganzen Ukraine. Shenka, Sersho, Ljocha, Julia – wir kennen uns alle schon lange, wir wurden älter, aber die Art unser Unterhaltung ist dieselbe – wir lachen jede Sekunde, über uns selbst, über die anderen, bei unserem Treffen jetzt ist es nicht anders.

Am Morgen, wir sitzen auf dem Boden ihrer kleinen Küche und trinken gerade Kaffee, bekommt Shenka eine SMS von ihrer Mutter. Auf dem Handy ist ein Foto ihres Hauses in Kyjiw zu sehen, ein neunstöckiges Hochhaus aus der Sowjetzeit, vor nur einer Stunde ist eine russische Rakete eingeschlagen, das Haus steht in Flammen. Shenka guckt auf ihr Handy, ich sehe, wie ihr Gesicht einfriert, sie weigert sich, es zu glauben, sie ruft ihre Mutter an und sagt: „Nein, das ist nicht unser Haus.“ Ich höre die Stimme ihrer Mutter, ruhig und leise. „Es ist unser Haus“, sagt sie, „wir haben kein Zuhause mehr. Wir haben keine Geschichte mehr.“

Shenka ist kein Mensch, der schnell aufgibt, sie sagt, macht nichts, kein Problem, wir gewinnen diesen Scheißkrieg und dann bauen wir uns ein neues Haus. Am Abend treibt sie eine Kiste Bier auf – die ihr freundlicherweise jemand gegeben hat, ein ziemlicher Schatz in diesen Tagen, in denen es in der Ukraine verboten ist, Alkohol zu verkaufen. Wir sitzen in ihrer Küche, wir konzentrieren uns nicht auf das, was gerade passiert ist, und wir lachen wieder.

I stay overnight in a flat with my friends from Kyiv, who since beginning of the war moved to Lviv and since first days of the war managed to organize stable system of donations from Israel for which they buy and distribute medicine for hospitals and individuals all over Ukraine. Zhenka, Serzho, Leha, Julia, - we know each other long time, we became older, but the style of our conversation remains the same – we laugh every second, at ourself, at others, and our current meeting is not different.
In the morning we drink coffee sitting on the floor in their tiny kitchen as Zheka gets a message from her mom. On her phone is a photograph of their house in Kyiv, nine stores soviet house, Russian rocket hit it just an hour ago, the house is burning. Zheka looks at her phone, I see how her face gets frozen, she refuses to believe, she calls her mother saying “no, no, it’s not our house”. I hear her mother voice calm and quiet. "That’s it", mother says, "we don’t have home anymore. We don’t have history anymore".
Zheka is not a person to fall in despair. she says -that’s nothing, no problem, we win this fck war and then we build us new house. In the evening she gets box of beer  – kindly given to her by someone, quite a treasury these days as no alcohol is allowed for sale in ukraine. We sit in their kitchen, we don’t focus on what just happened, and we laugh again.


 

Lwiw, 14. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
Lwiw, 14. März 2022

Deutsch
Original

Ich habe Lwiw nie so überfüllt gesehen wie in diesen Tagen. Die Stadt wurde plötzlich zu einer neuen Hauptstadt des Tuns, ein weltweites Hub, wo alles und jeder ankommt und abfährt. Es beginnt schon an der Grenze, die ausländische Freiwillige zu Fuß in Richtung Ukraine passieren, während gegenüber Scharen von Frauen und Kinder darauf warten, auf die andere Seite zu gelangen. Überfüllte Züge mit Flüchtlingen aus dem Osten kommen an und fahren voll mit Soldaten und humanitärer Hilfe aus dem Westen wieder ab. Universitätsprofessoren sind damit beschäftigt, in einem Theater der Stadt Berge von Kinderkleidung und Spielzeug zu sortieren, während in einem schicken Restaurant tausende Brote für Soldaten geschmiert werden.

Ich kam nach Lwiw, um mich nach einer ziemlich anstrengenden Zeit in Kyjiw etwas auszuruhen, aber hier ist keine Ruhe zu sehen; jeder, den ich treffe, ist damit beschäftigt entweder die Evakuierung von Leuten aus dem Osten oder die Lieferung von Rettungswesten in den Osten zu organisieren, alles in einem Rhythmus und Grad an Konzentration, wie sie vorher keiner dieser Menschen kannte. Es ist überwältigend und berührend gleichzeitig, ich fühle mich wie inmitten eines Ameisenhaufens, wo jeder seine Funktion kennt, alle zusammen für eine gemeinsame Aufgabe – das Ende des Krieges.

I’ve never seen Lviv as overcrowded as it is these days. It suddenly became some kind of new capital of action, worldwide hub where everything and everyone is arriving and departing. It starts already at the border, where foreign volunteers are walking into Ukraine, and just the opposite direction staying crowds of women and children waiting to get to the other side. Trains arrive overloaded with refugees from East and depart loaded by soldiers and humanitarian help from West. University professors are busy, sorting mountains of children cloth and toys in in a town theatre, while thousands of sandwiches for soldiers being prepared in a fancy restaurant.

I went to Lviv, to get some rest after quite intensive time in Kyiv but here is no rest visible; everyone I meet is busy, organizing evacuation of people from East or supply of life vests to East, in a rhythm and in a state of concentration not known to these people before. It’s overwhelming and touching at the same time, and I feel being inside anthill, where everyone knows its function, all together for one common task – the end of the war.


 

Rajon Wassylkiw, 9. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
Kyjiw, 10. März 2022

Deutsch
Original
Vor einigen Jahren hatten meine Freunde eine für die Ukraine untypische Geschäftsidee: Sie verwandelten ein völlig unbekanntes Dorf bei Kyjiw in ein Lavendelparadies. Sie begannen mit einem kleinen Hang neben dem Haus, jedes Jahr wurde die Fläche größer, sie lernten aus den Fehlern, freuten sich über Erfolge und schließlich – im vergangenen Jahr – hatten sie ihren ehrgeizigen Traum verwirklicht: Ein Lavendelpark, mit einer Brücke, einem Park, hingegossen in lilafarbenen Wellen über die Wassylkiwer Hügel. Dieses Jahr versprach wahrlich erfolgreich zu werden und sie für die Jahre der Arbeit zu belohnen.

Wir kommen in ihr von Lavendelduft erfülltes Haus, in dem sie bleiben wie in einer Burg. Nach einer Explosion im Öllager im benachbarten Wassylkiw brachten sie ihre Kinder nach Rumänien und sind dann zurückgekehrt, nach Hause. Sergej patroulliert mit den Nachbarn jede Nacht durchs Dorf. Er hat keine Waffe, nur ein qualitativ hochwertiges Messer, mit dem er bislang noch nicht so recht umgehen kann und sich an den Händen verletzt. Julia hilft auf einer benachbarten Plantage beim Kleinschneiden von Pilzen, die dann in die Stadt gebracht werden, wo man auf Essen wartet. Sweta koordiniert die Evakuierung von Menschen aus Kyjiw. An den Abenden schalten sie das Licht aus, um keine Aufklärungstrupps anzulocken, und scrollen dann bei Kerzenschein durch die Berichte von der Front. Ab und zu fliegt etwas über das Haus hinweg und es gibt ein verzögertes Geräusch. Nach 14 Tagen Krieg haben meine Lavendelfreunde gelernt zu unterscheiden, was diese Geräusche mit sich bringen. Ich möchte gern bei ihnen bleiben, in diesem Haus, wo der Kaffee sehr lecker ist, wo es warm ist und nach Lavendel riecht.

Несколько лет назад мои друзья начали необычный для Украины бизнес: они превратили никому не известную деревню возле Киева в лавандовый рай. Начав с небольшого склона возле дома, они каждый год расширялись, учились на ошибках, радовались успехам, и в прошлом году, наконец, реализовали свою амбициозную мечту – открыли Лавандовый Парк, фиолетовыми волнами раскинувшийся на гектарах Васильковских холмов. Этот год обещал быть по-настоящему успешным и должен был вознаградить их за годы работы. 
Мы приехали в ним, в их дом, пахнущий лавандой, ставший для них крепостью. После взрыва нефтебазы в соседнем Василькове они вывезли детей в Румынию и вернулись обратно. Сергей вместе с соседями каждую ночь патрулирует деревню. У него нет оружия, только очень хороший нож, которым он пока что не умеет пользоваться и то и дело ранит об него руки. Юля занимается нарезкой шампиньонов на дружественной соседской плантации; шампиньоны они отправляют в Киев, туда, где не хватает еды. Света координирует эвакуацию людей из Киева. Вечерами они выключают свет,  чтобы не привлекать диверсантов, и при свете свечей читают сводки с фронта. Время от времени над домом что-то пролетает и с запозданием доносится звук. За 14 дней войны мои лавандовые друзья научились различать, что несут в себе эти звуки. Мне очень хочется остаться с ними в этом доме, где очень вкусный кофе, тепло и пахнет лавандой.


 


 

Zerstörtes Wohnhaus in Wassylkiw, südlich von Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 9. März 

Deutsch
Original
Seit meinen ersten Tagen in der Ukraine habe ich meine Gefühle für mich behalten und versucht, positiv in die Zukunft zu schauen, durch Tränen hindurch gelächelt, versucht, die zu trösten, die es brauchten. Ich habe mich an den Lärm der Luftangriffe gewöhnt und an den Lärm von Explosionen. Irgendwie habe ich den Krieg von mir weggehalten, doch nun dringt er langsam ein in Körper und Seele. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich mitten in einem Kreuzfeuer stand – der erste Kriegstraum seit meiner Ankunft. In meinem Traum fühlte es sich an, als hätte ich mich an den Krieg gewöhnt.
Since my first days in Ukraine I’ve kept my emotions inside, trying to be positive about future, smiling through the tears, trying to comfort those who needed it. I’ve got used to the sound of air attacks and to the sounds of explosions. Somehow I have been rejecting this war but now it slowly penetrates body and soul. Last night I had a dream about staying in-a cross fire, the first dream of war since my arrival here. And in my dream the war felt like something I got used to live with.



Der Hof am Schutzraum, in dem seit 12 Tagen 310 Menschen leben. Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
 

Kyjiw, 8. März

Deutsch
Original
Es ist der 8. März. Ich spreche mit Menschen in einem Schutzraum. Ein Mann hat irgendwo Blumen gefunden. In rund einer Stunde wollen sie allen Frauen in dem Schutzraum Blumen schenken.
It’s 8 March. I am speaking with people in the shelter. A man found somewhere flowers. And in about an hour they want to present flowers to all the women in the shelter.


 


Irpin © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 7. März 2022

Deutsch
Original
Am Tag nach unserem Besuch in Irpin warteten schon Tausende Menschen unter der Brücke, um über den Fluss zu gelangen. Die Kämpfe sind in die Stadt vorgedrungen, der Kommandeur Sascha geht nicht mehr ans Telefon. Doch die Stadt ist noch nicht eingenommen.

Gestern erzählte uns ein Kyjiwer Abgeordneter, sie würden versuchen, über einen humanitären Korridor für Zivilisten in Irpin zu verhandeln. Ein Abkommen wurde geschlossen, ein paar Stunden später wurde eine Gruppe von rennenden Menschen von einer Mörsergranate getroffen, acht Menschen starben.

Bei Dämmerung hielten wir uns einige Kilometer entfernt von Irpin auf, als der Kommandeur der Gebietsverteidigung mit diesen Nachrichten aus der Stadt kommt. Er kann seine Tränen auch vor der Kamera nicht zurückhalten, als er uns von dem Horror erzählt, den er dort grad miterlebt hat.

Heute, am 7. März sind wir wieder am Eingang zur Stadt. Die Schüsse sind so nah, dass ich nicht in die Nähe der Brücke gelangen kann. Einer nach dem anderen fahren die Krankenwagen von der Brücke von Irpin zum Stadtrand von Kyjiw, die letzten Bewohner sind evakuiert.

Doch die Stadt Irpin ist noch nicht eingenommen.

Next day after our visit to Irpin, there were already thousands of people waiting under the bridge to cross the river. Fighting moved inside the town and commander Sascha was not picking up phone anymore. Still the town of Irpin hasn’t been taken. 

On 6.03.22 a deputy of Kyiv told us they are trying to negotiate a humanitarian corridor in the city for civilians. Agreement has been made and some hours later, group of running people were hit by the flying mine inside the town, leaving eight people dead. In the dusk we were staying some kilometers away from Irpin, when the commander of territorial defiance came with these news from the town. He couldn’t keep tears even in front of camera telling of horrors he just witnessed there. 
On 7.03.22 we approached the entrance of the town again. Gunshots were so close that I couldn’t get any close to the bridge. Ambulances were running once by once from Irpin bridge to edge of Kyiv, last people were evacuated.  
Still the town of Irpin hasn’t been taken.


 


Irpin, 4. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 4. März 2022

Eine Brücke über den kleinen Fluss – der kürzeste Weg aus dem Zentrum von Kyjiw in die bewaldete Vorstadt Irpin – wurde von ukrainischem Militär am zweiten Kriegstag gesprengt. Momentan ist das der einzige Weg aus der Vorstadt heraus, in der rund 60.000 Menschen leben. In alle anderen Richtungen steht die russische Armee, erinnert mit minütlichem Beschuss höflich an ihre Anwesenheit.
Wir möchten nach Irpin, dort erwartet uns Sascha Morkuschin, in Personalunion Bürgermeister und Kommandeur der Gebietsverteidigung. Das Treffen mit ihm in der unter Beschuss stehenden Vorstadt haben Freunde von Freunden organisiert, denn jetzt sind alle Freunde von Freunden auch deine Freunde. Der Weg zu dem Treffen ist nicht einfach. Nachdem du auf dem Weg Dutzende Kontrollposten passiert hast, kommst du zu der zerstörten Brücke, stellst das Auto ab, gehst unter die Brücke, überquerst das Flüsschen auf eilig verlegten Kieferbrettern, kletterst über Betontrümmer und wartest dann auf ein Auto, hinter dem Steuer Männer mit Maschinenpistolen, das dich an einen Ort bringt, von dem du sofort wieder verschwinden möchtest.
Der Bürgermeister und Kommandant ist ein gutmütiger dicker Mann, der zusammen mit dem Chef des Wohnungsamtes, einem Tischlermeister, und anderen Menschen aus ähnlichen Berufsgruppen schon 10 Tage die Stadt verteidigt.
Die Explosionen werden häufiger und wir ziehen uns langsam zurück zur Brücke. Aus Riwne sind Busse gekommen, von der dortigen Baptistengemeinde organisiert, um Menschen aus der Stadt zu holen – und viele von denen, die bisher nicht daran gedacht haben, sehen nun ein, dass das womöglich eine der wenigen Chancen zur Flucht ist.
Der Übergang über den Fluss auf den dünnen Kieferbrettern ist immer stärker frequentiert, die Menschen tragen in Wolltücher gewickelte Hunde und Katzen, ein anderer hat ein super-schickes Fahrrad als einziges Gepäckstück, wieder einer schleppt ein paar riesige Koffer. Wie wenig Zeit bleibt gerade, um zu entscheiden, was man mitnimmt, wie wenig Kraft für diesen Weg, wie viel Angst vor dem Ungewissen. Sie balancieren über die dünnen Bretter so schnell sie können, dann eilen sie los, sehen mich nicht, obwohl ich direkt daneben stehe, und schlussendlich erreicht mich das Grauen, das hier und jetzt geschieht, ein unendlicher Schmerz dringt in mich ein, denn ich verstehe nicht, warum ihnen, warum uns dieses Grauen widerfährt.
Und dann überkommt mich Zorn. Zorn auf die, die dieses Grauen hierher gebracht haben.


 

Maidan, Kyjiw, 3. März 2022 / © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 3. März 2022, am Nachmittag

Deutsch
Original
Kyjiw bereitet sich auf den Kampf vor. Es geschah über Nacht, wir sind aufgewacht und nun sind an fast jeder Ecke Barrikaden errichtet. Ich gehe zu einer hin, ungefähr hundert Menschen jeden Alters bewegen sich wie Ameisen, schnell, ruhig, organisiert. Alte Männer füllen gemeinsam mit jungen Hipster-Mädchen Flaschen mit Molotowcocktails. Andere bauen Mauern aus Autoreifen und Sand. Wir reden, wir lachen, ich umarme Menschen, die ich grad erst getroffen habe, wir versprechen uns, uns bald wiederzusehen. Dieser Moment gibt mir ein Gefühl der Ruhe, irgendwie verschwinden all meine Ängste und meine Zweifel darüber, ob ich nicht doch rechtzeitig fliehen sollte.
Irgendetwas ist so richtig an diesen Menschen, die in der Stadt bleiben, die bereit sind zum Schlimmsten und voll Hoffnung auf das Beste. Ihre Kraft hat nichts Pathetisches, ihr Vertrauen ist überzeugend. Plötzlich fühle ich mich sicher mit ihnen, mit denen, die jetzt in Kyjiw sind, mit denen wir teilen werden, was als nächstes kommt.
Ich treffe an diesem Tag so viele unterschiedliche Menschen, von zivilen Verteidigern bis hin zu einem Parlamentsabgeordneten, und alle sagen im Grunde dasselbe: Die Russen können Kyjiw zerstören, doch es ist nicht möglich, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören. Keiner von ihnen will sterben, aber keiner von ihnen ist willens zu kapitulieren.
Es hat etwas Besonderes – diese Art von Freiheit, wenn du sie erstmal geschmeckt hast, wenn du sie erlebt hast, dann gibt es keinen Weg zurück.
Kyiv preparing for the fight. It just happened overnight and we woke up with barricades being constructed on practically every corner. I approach one of those, where around 100 people of all ages are moving like ants, fast, quiet, organized. Old men together with young hipster-looking girls are filling bottles with Molotov cocktail. Others build walls filled with car tires and sand. We talk, we laughs, I hug with people I just met, we promise to see us soon again. I feel calm from this moment, somehow all my fears and doubts of timely escape are going away.
Something is very right with these people, who stay in town, who are ready for the worse but firmly hope for the best. Their strength is totally not pathetic, their confidence is convincing.  I suddenly feel safe with them, those who are now in Kyiv, with whom we might share what comes next.
I meet with so many different people this day, from young civil defenders to a member of Parlament and all basically say same thing. Russians can destroy Kyiv but its not possible to destroy Ukraine and Ukrainians. Nobody of them wants to die but nobody agrees to surrender.
There is something special about this essential sense of freedom, once you taste it, once you lived with it, there is no way back


 

Wolodymyr Park, Kyjiw, 2. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

Kyjiw, 3. März 2022

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Ich bin in Kyjiw, meiner Stadt, meiner Heimat, laufe durch die Straßen im Zentrum, wo fast jeder Stein eingeschrieben ist in mein Leben. Es ist kalt draußen und normalerweise würde ich gleich in eines der gemütlichen Lokale gehen, ein paar Freunde anrufen und ein Glas Wein mit ihnen trinken. Doch heute ist hier nichts normal. Ich bin die einzige, die hier über den Chreschatik spaziert, die Hauptstraße von Kyjiw. Die meisten Freunde von mir haben Kyjiw eilig verlassen, als die Stadt auf einmal jeden Tag und jede Nacht von Raketen getroffen wurde. Etwas Undenkbares passiert, etwas, das mein Gehirn sich weigert zu akzeptieren. Der KRIEG ist hier, in meinem Land, in meiner Stadt. 

Am Tag des Angriffs entschied ich mich, nach Kyjiw zu fahren. Das dringende Bedürfnis hier zu sein hat nichts zu tun mit dem Berichten aus der heißen Zone. Wenn der Krieg in mein Zuhause kommt, möchte ich irgendwie zu Hause sein. Es geht hier nicht um Fotografie, es geht um mich, meinen Ort, meine Geschichte und die Geschichte der ganzen Welt, die derzeit hier stattfindet.
Ich bin aufgewachsen im Bann der Geschichten meiner Großmutter, die die ganze Zeit während der Nazi-Besatzung von 1941 bis 1944 in Kyjiw war, und meines Großvaters, der Militärmusiker war und bis Königsberg und in die Mandschurei kam. Nie war Krieg für mich real, aber jetzt ist er hier. Meine Nichte und mein Cousin riefen mich am dritten Kriegstag an, als sie in den nördlichen Außenbezirken der Stadt unter Beschuss saßen, sie weinten vor Angst, baten dringlich, ich möge auf die Straßen von Berlin gehen und ihnen helfen, sie beschützen. Es waren Tausende auf den Straßen, rund um die Welt, aber kann das helfen?

Ich laufe durch die Straßen im Zentrum von Kyjiw, leere tote Straßen einer Stadt im Krieg. Neben dem Gebäude der Stadtverwaltung steht eine alte Frau, allein. Als wir näherkommen, bittet sie uns dringlich, wir mögen helfen, die deutsche Kanzlerin zu erreichen, sie sagt, sie würde wissen, wie man Putin stoppt, die weiß es ganz sicher. Wir gehen weiter.

I am in Kyiv, my city, my home, walking the streets in downtown, where almost every stone is inscribed into my essence. It's cold outside and normally I would soon sneak into one of cozy restaurants around and call some friends to join me for glass of wine. But today nothing is normal here. I am the only person walking on Khreschatik, the main street of Kyiv. Most of my friends have left the city in a rush, as rockets started hitting town every day and night. Something unthinkable is going on, something that my mind refuses to accept. The WAR is here, in my country, in my city.
I took decision to go to Kyiv in the first day of attack. The urge to be here is not connected with reporting from the hot zone. But when war comes to my home I somehow want to be home. This is not really about photography, this is about me, my place, about my history and the history of whole world that currently happens here.
I’ve grown up being fascinated by stories of my grandmother, who spent whole Nazi occupation in 1941-44 in Kyiv and my grandfather, who was an army musician and went as far as Königsberg and Manchuria. War never seemed real for me but now its here. My niece and my cousin called my on third day of the war, as they were sitting under shelling in the northern outskirts city, crying from fear, begging me to go to the streets of Berlin to help them, to protect them. There were thousands on the streets all around the world, but would it help?
I am walking central streets of Kyiv, empty dead streets of town in the war. Next to the town administration an old woman stands, alone. As we approach, she begs us to help to reach german kanzler, she says she knows how to stop Putin, she knows for sure. We walk away.


 

© Ostkreuz

Mila Teshaieva ist in Kyjiw geboren und aufgewachsen. Seit 2010 lebt sie auch in Berlin. Seit 2004 arbeitet Mila Teshaieva an Langzeitprojekten auf den Gebieten der ehemaligen UdSSR, insbesondere widmete sie die letzten Jahre dem Kaukasus und der Region um das Kaspische Meer. Erschienen sind ihre Bilder auf den Seiten des Courrier international, British Journal of Photography, Time Magazine, Magazine Lightbox und vielen anderen. Für ihre fotografische Arbeit hat Mila Teshaieva bereits zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.

Publikationen (Auswahl):
InselWesen, Kehrer Verlag, 2016
Promising Waters, Kehrer Verlag, 2013

Einzelausstellungen (Auswahl):
MIT Museum Boston (USA 2018)
Museum Europäischer Kulturen (Berlin 2017)
Haggerty Museum of Art (USA 2015)
Blue Sky Gallery (USA 2015) 
Museum an der Westküste (Föhr 2014) 


Foto: © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
Text: Mila Teshaieva
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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